Neues von unserem Vater
In einer Schwangerschaftsbibel steht, dass es jetzt, nach der viermonatigen Anpassungsphase des Organismus an die neuen Umstände, wieder aufwärts gehen soll. „Die Energie kommt zurück und man fühlt sich fast wie immer“. Laut derselben Bibel kannst du jetzt Geräusche außerhalb meines Körpers hören; bei einigen zuckst du sogar zusammen. Wenn ich heule, nehme ich an. Es tut mir leid, dass ich dein Zusammenzucken wieder ungewollt provoziere. Selbst die Glückshormone kann man überlisten.
Bist du jetzt wirklich schon ganz Ohr? Bei mir läuft im Hintergrund Klassik Radio. Ich mache es lauter. Kannst du wirklich hören, wie stark Vivaldis „Sommer“ ist? Schlägt auch dein Herz bei Kulminationen schneller als sonst? Denn dein Herz schlägt ja sowieso viel schneller als meines. Hörst du zu? Ich könnte für dich singen – ich habe es mein ganzes Leben gemacht. Nun jetzt kann ich es nicht mehr. Ich habe meine Gitarre nicht zur Hand genommen seit jener Winternacht, an der ich deinem Vater russische Lieder gesungen habe. Wir hatten einen Tannenbaum und Kerzen auf dem Tisch. Es war warm, wir waren glücklich. Damals war er verliebt und stolz auf mich und seine Augen strahlten vor Freude. Irgendwann werde ich wieder singen – nur für dich. Ich weiß, dass du ein dankbarer Zuhörer sein wirst. Und – versprochen – wenn du schreist, werde ich mir vorstellen, dass du für mich singst. Ob es funktioniert?
Wieder blättere ich an einer der umfangreichsten Broschüren für werdende Mütter „Rundum Schwangerschaft und Geburt“. Jetzt bin ich bei dem für mich bestimmten Teil „17-20 Schwangerschaftswoche“. Auf dem Bild zum Text ist ein kuschelndes junges Pärchen auf dem Sofa abgebildet. Im Text daneben ein Tipp: „Am schönsten mit Ihrem Partner zusammen“. Warum möchte man tatsächlich gerade während der Schwangerschaft so extrem kuscheln? Warum zum Teufel gerade jetzt, wenn es mir untersagt wird? Woher kommt dieses starke Bedürfnis, von ihm umarmt zu werden? Täglich, ständig. Passiert es gerade weil es untersagt wurde? Oder sind da wieder verdammte Hormone im Spiel, die mein schwangerer Körper derzeit massenhaft ausschüttet? Diese kleinen bösartigen Dinger, die eine Knutschkugel und ein Kuscheltierchen aus mir machen.
Ich habe mich neulich nochmal seit langer Zeit – und wohl zum letzten Mal in diesem Leben – vor deinem Vater erniedrigt. Ich habe ihn angerufen und ihn darum gebeten, einfach mal für eine Weile da, bei mir, zu bleiben, neben mir zu liegen, mich zu umarmen. Ich hatte keine Hintergedanken, wie es mir später vorgeworfen wurde. Ich kann schwören, dass ich dabei keine Küsse oder Sex gewollt hätte – nachdem allem was passiert ist. Ich bat ihn lediglich um ein paar Stunden menschlicher Nähe und Wärme. Dies wurde mir nicht bewilligt.
Er hat den Vorfall mit seiner Freundin ausdiskutiert und leitete ihre Verachtung an mich weiter. Mir wurde vorgeworfen, dass ich sie gar nicht respektiere, wenn ich mit solchen Wünschen ankomme.
Ich hatte das Gefühl, in einer verglasten Aufzugkabine zwischen zwei Hochhäusern aufgehängt zu sein. Und von allen Seiten trommelt kräftig der Regen gegen ihre Scheiben.