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Bindungsanalyse: So stärkst du schon vor der Geburt die Mutter-Kind-Bindung

Bei der Bindungsanalyse trittst du bewusst in der Schwangerschaft mit deinem Baby in Kontakt: „Diese vorgeburtliche Bindungsförderung nach Hidas und Raffai ist eine sehr schöne Methode, mit Hilfe derer Schwangere in wöchentlichen Einzelsitzungen Kontakt zu ihrem Kind aufnehmen und in einen echten Dialog mit ihm treten können“, erklärt die Frankfurter Frauenärztin Dagmar Müller.

In diesem Artikel:

So wichtig ist eine vorgeburtliche Bindung

Beate ist schwanger, inzwischen ist sie in der 22. Woche. Wenn wir uns auf einen Tee treffen, um uns mal wieder auf den neuesten Stand in Sachen Familie zu bringen, hat sie immer dieselbe unbewusste Gestik und Mimik, sobald die Sprache auf ihren kleinen Untermieter kommt: Sie lächelt verzückt, ihre Hand wandert zum Bauch, und sie spricht sanft von und mit ihrem Zwerg. Ganz intuitiv wenden wir uns in der Schwangerschaft unserem Ungeborenen zu, reden mit ihm, streicheln es und knüpfen auf diese Weise erste zarte Bande. Und das ist auch gut so.

Denn in den neun Monaten Schwangerschaft entwickelt sich das Menschenkind nicht nur körperlich, also von der befruchteten Eizelle zum fertigen winzigen Menschen. Auch Seele und Geist dieser kleinen Persönlichkeit formen sich in dieser Zeit aus. „Wir kommen nicht nur mit einem Körper, wir kommen bereits mit einer Feinjustierung zur Welt“, betont Pränatalpsychologe und Psychoanalytiker Ludwig Janus. Er brachte 2006 die sogenannte Bindungsanalyse nach Deutschland. Man könnte diese Methode auch „Bauchgeflüster“ nennen oder „Botschaften an ein unbekanntes Wesen“ – denn diese besondere Art der Schwangerenbegleitung ermöglicht eine frühe Kontaktaufnahme zum ungeborenen Kind und wirkt sich positiv auf Geburt und Babys Persönlichkeitsentwicklung aus. „Die vorgeburtliche Bindungsförderung nach Hidas und Raffai ist eine sehr schöne Methode, mit Hilfe derer Schwangere in wöchentlichen Einzelsitzungen Kontakt zu ihrem Kind aufnehmen und in einen echten Dialog mit ihm treten können“, erklärt auch die Frankfurter Frauenärztin Dagmar Müller. Sie ist eine der etwa achtzig ausgebildeten Bindungsanalytikerinnen in Deutschland.

Bindungsaufbau dank innerer Bilder, Gedanken und Gefühle

Erarbeitet wurde die Methode in den frühen 1990er Jahren: Der ungarische Psychoanalytiker Jenö Raffai erkannte bei seiner Arbeit mit schizophrenen Jugendlichen, welch wichtige Bedeutung die vorgeburtliche Bindung auf die spätere Entwicklung haben kann und entwickelte gemeinsam mit seinem Kollegen György Hidas diese besondere Art des pränatalen Dialogs. Dafür hört die Mutter in sich hinein, nimmt die Signale und Empfindungen des Kindes wahr.

Bindungsanalyse: Für wen?

Die Bindungsanalyse eignet sich für jede Schwangere. Besonders hilfreich kann sie sein, wenn eine Frau sich sehr belastet fühlt oder große Ängste hat zum Beispiel aufgrund von negativen Geburtserlebnissen oder Fehlgeburten. Begonnen wird in der Regel zwischen der 12. und 25. Woche. Die Sitzungen dauern 50 bis 60 Minuten und finden bis zur Geburt regelmäßig ein- bis dreimal pro Woche statt. Die Kosten belaufen sich auf circa 40 bis 50 Euro pro Sitzung.

So können in ihrem Inneren Bilder, Fantasien, Gedanken und Gefühle aufkommen, die sie ihrem Baby näherbringen und ihr helfen, seine Zeichen immer besser zu deuten. Das gegenseitige Vertrauen wächst.

Bindungsanalyse hilft bei Trauma oder Geburtsangst

Aus der Bindungsforschung ist schon lange bekannt, wie wichtig die Auseinandersetzung mit dem anderen ist, um selbst wachsen zu können: Ein Kind braucht Eltern, die es wahrnimmt, die es sehen und hören. Das gilt für die Zeit unmittelbar nach der Geburt, aber auch schon davor, sagt Ludwig Janus, „denn schon Monate vor der Geburt ist da ein kleiner, empfindsamer Mensch mit sehr feinen Antennen für das, was um ihn herum geschieht“. Bereits im Mutterleib erlebt das Kind, was die Eltern erleben: „Damit es auch den Kindern gut gehen kann, muss es den Müttern gut gehen. Das gilt ganz besonders auch für die Zeit der Schwangerschaft.“ Davon ist Dagmar Müller überzeugt. Doch nicht nur schöne, auch schwierige Erfahrungen prägen das Kind. „Kinder kommen aber mit vielem klar, wenn die Eltern es ihnen erklären. Schon ein Kind im Bauch ist empfänglich dafür, wenn die Mutter ihm signalisiert, ich habe jetzt Stress, aber dieser Stress hat nichts mit dir zu tun, es ist nicht dein Stress.“ In solch einem Fall empfiehlt die Bindungsanalytikerin, sich am Abend ganz bewusst eine Stunde seinem kleinen Untermieter zuzuwenden. Die Bindungsanalyse vermag aber noch viel mehr: „Sie kann auch bei traumatischen Erfahrungen in dieser oder früheren Schwangerschaften, bei Geburtsängsten und zur Vorbeugung postpartaler Depressionen helfen“, so Dagmar Müller.

Mit vorgeburtlicher Bindung das Baby auf die Geburt vorbereiten

Geboren zu werden heißt, auf einem vollkommen fremden Planeten zu landen und hilflos ausgeliefert zu sein. Um dieses Gefühl abzumildern, dem Baby Sicherheit und Vertrauen zu geben, beginnt in der 37. Schwangerschaftswoche die Abschlussphase der vorgeburtlichen Bindungsförderung. Jetzt bereiten Mütter ihr Kind physisch und psychisch auf diesen harten Übergang vor. Bindungsanalytiker gehen davon aus, dass das Baby die Geburt dann in Gang setzt, wenn es bereit dazu ist. Mütter, die vorab mit ihrem Baby im Dialog waren, die Geburt „geübt“ haben, spüren von Anfang an eine enge Verbindung. „Nach der Geburt stellt sich oft ein sehr schnelles Gefühl des Vertrautseins mit dem Baby ein. Viele sagen auch, die Kinder sind „pflegeleichter" und aufmerksamer“, berichtet Frauenärztin Müller.

Angelika Rother ist zweifache Mutter und hat den Unterschied kennengelernt. Sie hat am eigenen Leib erfahren, wie sich eine vorgeburtliche Kontaktaufnahme auf die Persönlichkeit des Kindes auswirkt: Ihren Sohn bekam sie ohne diese besondere Art der Schwangerenbegleitung; ihre Tochter hingegen sechs Jahre später nach einer Bindungsanalyse.

Mütter gewinnen Sicherheit durch Bindungsanalyse

„Meine Tochter war von Anfang an entspannt“, erzählt sie. Selbst in stressigen Familiensituationen, bleibt sie ganz ruhig. „Während mein Partner, mein großer Sohn und ich uns in unserem neuen Leben zu viert erst zusammenraufen mussten, und es dabei auch mal lauter und anstrengend wurde, blieb sie ganz gelassen. Sie lag zufrieden auf dem Sofa und schaute, als wollte sie uns sagen: Ich find’s gut hier, aber wenn ihr euch unbedingt stressen wollt, dann macht das halt.“
Nicht nur für die Kinder, auch für die Mütter kann eine gute vorgeburtliche Bindung viel verändern. „Medizin kann sich irren“, meint Angelika. Mehrfach wurde gegen Ende der Schwangerschaft gemutmaßt, dass ihr Kind zu dünn und vermutlich nicht optimal versorgt sei. „Aber die Bindungsanalysestunden gaben mir Sicherheit. Ich spürte, dass es ihr gut geht.“ Als die Ärzte am Ende trotzdem darauf bestanden, die Geburt einzuleiten, nahm sie sich die Zeit, ihrer Tochter zu erklären, was jetzt passieren würde und vor allem warum. „Ich hatte das Gefühl, dass sie anfänglich regelrecht wütend und empört war, weil ich ihr versprochen hatte, dass sie den Zeitpunkt bestimmen würde. Die Wut konnte man regelrecht an den Ausschlägen im CTG sehen. Doch sie hat sich von mir überzeugen lassen, und schließlich verlief die Geburt ohne Komplikationen.“

Tiefe Bindung erleichtert Babys Ankommen

Babys, die schon im Bauch sicher gebunden sind, haben es vom ersten Schrei an leichter. Das bestätigen auch die Untersuchungen von Ludwig Janus. Babys, die nach einer Bindungsanalyse zur Welt kommen, schreien weniger und finden schneller in einen Tag-Nacht-Rhythmus. Sie kommen seltener als Frühgeburt oder per Kaiserschnitt zur Welt, auf viele medizinische Interventionen kann verzichtet werden. Dass die Bindungsanalyse eine wunderbare Prävention von Schwangerschafts- und/oder Geburtskomplikationen ist, belegen folgende Zahlen: In den 2200 Bindungsanalysen waren es statt über dreißig Prozent Kaiserschnittgeburten nur noch sechs. Und noch erstaunlicher: Die Frühgeburtsrate schrumpfte von acht auf 0,2 Prozent. Hinzu kommt, dass Mütter weniger oft unter dem berühmten Babyblues leiden und viel seltener eine postpartale Depression entwickeln.

Für jeden einzelnen, aber auch für unsere gesamte Gesellschaft ist es eine gute Investition in die Zukunft, wenn der Anfang gelingt. Je sicherer und geborgener sich ein Kind schon im Mutterleib fühlt, desto einfacher ist es dann, zu einem selbstbewussten, selbstsicheren und starken Menschen heranzureifen. „Wir leben in einem Land, in dem wir nicht alle unsere Energie darauf verwenden müssen, täglich satt zu werden und zu überleben“, erklärt Ludwig Janus. „Wir haben Raum für eine bewusste Elternschaft und dürfen neben den ganzen Möglichkeiten der High-Tech-Medizin auch an unsere Seele denken. Das sollten wir uns nicht nehmen lassen.“

Vorteile der Bindungsanalyse

Mutter und Baby wachsen zu einem guten Team zusammen und erleben unter der Geburt wesentlich weniger Ängste und Schmerzen.

  • Die Geburt wird natürliche und kürzer.
  • Die Notwendigkeit für geburtshilfliche Eingriffe nimmt deutlich ab.
  • Kaiserschnitt-Entbindungen waren nach den Bindungsanalysen in weniger als sechs Prozent der Schwangerschaften nötig.
  • Die geringere Geburtsbelastung zeigt sich in einem natürlich-runden Kopf und durch selteneres Schreien.
  • Nach der Geburt wenden sich die Babys neugierig der Welt zu, sind emotional stabil, sozial kompetent und haben vollen Zugang zu ihren persönlichen Begabungen.
  • Tagsüber schlafen diese Babys seltener, nachts dafür länger, nach wenigen Wochen bereits 6 bis 8 Stunden.
  • Die Verständigung mit den Babys nach der Geburt ist viel einfacher und der Umgang mit ihnen gelingt „vollständig intuitiv“.
  • Bei den 2200 Bindungsanalysen ist keine postpartale Depression aufgetreten, die Frühgeburtsrate lag bei 0,2 Prozent.

Quelle: www.bindungsanalyse.de

Unsere Expertin

Dagmar MüllerDagmar Müller ist Frauenärztin im Ruhestand und pränatale Bindungsanalytikerin.

Sie lebt in Frankfurt am Main und bietet dort die Bindungsanalyse in einer gynäkologischen Gemeinschaftspraxis an.

Experten-Interview: Sich von Anfang an Zeit nehmen

kidsgo: Was hat Sie zur pränatalen Bindungsanalyse gebracht?

Dagmar Müller: Ich war schon immer der Überzeugung, dass das Kind im Bauch viel mitbekommt. Darum war ich auch der Auffassung, dass eine gute Schwangerenbetreuung mehr bieten muss als die Vermessung von Kind und mütterlichem Bauchumfang und die Kontrolle der Vaginalflora. 2009 auf einem Kongress des ISPPM (International Society for Pre- and Perinatal Psychology and Medicine) in Heidelberg hörte ich dann zum ersten Mal einen Vortrag über pränatale Bindungsanalyse. Direkt danach meldete ich mich zum dritten Ausbildungskurs an, den Jenö Raffai und Ludwig Janus in Deutschland hielten.

Wie können Eltern ihrem ungeborenen Kind Gutes tun?

Müller: Sich Zeit nehmen. Ganz besonders in den ersten drei Monaten der Schwangerschaft, wenn nach außen hin noch gar nicht viel zu sehen ist, innen drin aber schon ganz viel passiert. Die Erfahrung hat gezeigt, dass Mütter, die in der Schwangerschaft ständig am Limit und überfordert sind, oft auch Kinder bekommen, die im ersten Lebensjahr schwieriger sind, mehr weinen, mehr Zeit und Kraft binden. Es ist also eine gute Investition in die eigenen Ressourcen, sich diese Zeit schon in der Schwangerschaft zu nehmen.

Ich bin schwanger und gestresst. Was kann ich jetzt tun, um mir mit meinem schlechten Gewissen dem Kind gegenüber nicht noch mehr Druck zu machen?

Müller: Versuchen, die Probleme zu lösen. Hilfe zulassen und sich Hilfe suchen. Nicht jedes Problem lässt sich von jetzt auf gleich lösen, aber es kann trotzdem erleichternd sein, mit jemandem darüber zu reden und das Problem aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Hierbei kann eine Bindungsanalyse helfen, in der ja auch angeschaut wird, wie ich selbst geboren bin und wie meine vorherigen Geburten verlaufen sind.

Ein Beispiel: Eine meiner Klientinnen hatte schreckliche Sorge vor ihrer zweiten Geburt, weil sie die Betreuung in der Klinik während der ersten Geburt in schlechter Erinnerung hatte. In den Stunden unmittelbar vor der Geburt fühlte sie sich damals alleingelassen. Als ich ihr vorsichtig gesagt habe, dass man es ja auch so sehen könnte, dass sie in diesen Stunden ganz bei sich gewesen wäre, fingen ihre Augen an zu leuchten.
Und für alles, was in der Schwangerschaft nicht optimal läuft, gilt natürlich, es ist auch hinterher noch vieles heilbar.

Links zum Thema Bindung

Deutsche Seite zur Bindungsanalyse mit Therapeutenliste nach Postleitzahlen: www.bindungsanalyse.de

Österreichische Seite mit vielen Linktipps, Artikeln zum Download und Link zu einem 7-minütigen Fernsehbeitrag (ORF) über Bindungsanalyse: www.bindungsanalyse.at

Schwangerschaft ist ja nicht die Zeit, um alte Baustellen aufzureißen. Warum kann es aber manchmal doch richtig und wichtig sein, gerade jetzt alte Traumata anzuschauen?

Müller: Traumata wirken weiter und sie hindern daran, aufs Kind zu hören und schwingungsfähig zu sein. Darum kann es eben doch sehr heilsam sein, hier hinzuschauen. Das gilt nicht nur, aber auch für so schwerwiegende Traumata wie zum Beispiel die Erfahrung von sexuellem Missbrauch. Gut begleitet kann hier die Erfahrung einer vaginalen Geburt, die oft erstmal unvorstellbar erscheint, eine heilsame Erfahrung für die Mutter werden.

Was bringt Sie selbst immer noch zum Staunen?

Müller: Ich muss immer wieder staunen, wie gut Babys im Bauch verstehen, was über Bilder, Gefühle und Fantasien in der Bindungsanalyse von der Mutter zu ihnen gelangt und wie klar Mütter zwischen dem unterscheiden können, was von ihnen kommt und was vom Kind ausgeht.

Erstaunlich sind auch die Rückmeldungen, die wir von manchen Neonatologen erhalten: Sie merken, ob Kinder, die zu früh geboren wurden oder direkt nach der Geburt operiert werden müssen, in einer Bindungsanalyse darauf vorbereitet wurden. Sie verhalten sich anders, kooperieren besser, erholen sich schneller und durchleiden weniger Krisen.

Frau Müller, vielen Dank für das interessante Gespräch.

Buchtipps

Christa Balkenhol & Christine Karrasch

Mit deiner Liebe wächst meine Seele

Leben und Erleben im Mutterleib. Viele Praxisbeispiele zur vorgeburtlichen Bindungsförderung. Ein Buch, das anrührt und berührt mit einem Vorwort unserer Interviewpartnerin Dagmar Müller.

Einklang Verlag

Helga Levend & Ludwig Janus

Bindung beginnt vor der Geburt

Viele sehr lesenswerte Fachbeiträge unter anderem von Jenö Raffai, Ludwig Janus, Alfons Reiter und Franz Renggli zum vorgeburtlichen Erleben, die nachdenken lassen.

Mattes Verlag Heidelberg

György Hidas, Jenö Raffai

Die Nabelschnur der Seele

Hidas und Raffai erklären, wie eine gestörte vorgeburtliche Mutter-Kind-Bindung die spätere Persönlichkeitsentwicklung beeinflussen kann und wie es möglich ist, mit dem Baby im Bauch in den seelischen Austausch zu treten.

Psychosozial Verlag, Gießen