Kinderknigge – Pflicht oder Kür
Neulich haben wir eine entzückende alte Dame auf der Straße getroffen. „Oh, das ist aber eine hübsche Puppe!“ sagte sie zu meiner Tochter. „Wie heißt die denn?“ Keine Antwort. Die freundliche alte Dame beugt sich etwas herunter, um mit Lilli auf Augenhöhe zu kommunizieren. „Ist das deine Lieblingspuppe?“
Wieder nichts. Nervös starre ich auf meine Schuhspitzen, stupse Lilli an und flüstere ihr zu: „Nun sag doch mal, wie deine Puppe heißt!“ Beharrliches Schweigen.
„Möchtest du einen Bonbon haben?“ startet die Fremde einen letzten Versuch der Kontaktaufnahme. Meine Zweijährige grapscht den Bonbon und lässt ihn blitzschnell in ihrer Tasche verschwinden – ohne einen Kommentar, versteht sich. „Danke schön?“– Fehlanzeige. Die alte Dame wartet. „Wie sagt man?“ versuche auch ich mein Glück bei meinem sonst blendend erzogenen Nachwuchs. Nix sagt man, offensichtlich. Stattdessen versteckt sich Lilli hinter mir. Ich lächle die alte Dame entschuldigend an. „Na ja, verabschiedet sich diese: Sie ist ja noch klein...
Immer schön freundlich...?
„Danke sagen hätte sie trotzdem können,“ denke ich bei mir. Andererseits ... die Frau war meiner Tochter völlig fremd ... und drückte Lillis Verhalten nicht gesundes Misstrauen aus? Schließlich bin ich diejenige, die ihr immer wieder predigt, dass sie nicht ungefragt Süßigkeiten von Fremden annehmen soll. Vor meinem geistigen Auge tauchen plötzlich Bilder von vermissten Kindern, Pädophilen und Kinderschändern auf...
Am Abend erzähle ich die Begebenheit meinem Mann. Der kann meine Ängste nicht wirklich nachvollziehen und sieht die „Bitte-Danke-Frage“ nicht so eng. Mit der ihm eigenen, wohl männer-spezifischen „Energiespar-Haltung“ kommentiert er meine Höflichkeitsansprüche mit einem einfachen: „Ach lass sie doch...! Ist doch nicht so wichtig.“ Damit liegt er, zumindest nach einer aktuellen Stern-Umfrage klar daneben. Denn gutes Benehmen ist zurzeit so gefragt, wie schon lange nicht mehr.
Gutes Benehmen ist „in“
Über 70 Prozent der Befragten betrachten gute Manieren als Erfolgsfaktor bei der Jobsuche. Und als Erziehungsziel Nr.1. „Gutes Benehmen“, meint auch Dagmar von Cramm, Autorin des „Kinder-Knigge für Eltern, „ist die Schmiere, die den Familienmotor besser laufen lässt.“ Kinder, die Umgangsformen kennen, fühlen sich sicherer in neuen Situationen, weil sie wissen, wie sie sich verhalten sollen. Außerdem ermöglicht gutes Benehmen dem jeweiligen Gegenüber, freundlich auf einen zuzugehen.
Bild: www.utamelletat.de
Bitte, Danke und Auf Wiedersehen
„Gute Manieren“ – auch wenn der Begriff an scheuernde weiße Hemdkragen und erhobene Zeigefinger erinnert – beschreibt nichts weiter als die Spielregeln für den Umgang miteinander. Was der Einzelne darunter versteht, ist oft Einstellungssache, aber einige Basiselemente gelten übergreifend und können auch schon von Zweijährigen gelernt werden. Die Grundregeln für einen freundlichen Umgang miteinander, für Begrüßungen, Verabschiedungen und Tischmanieren lernen Kinder am leichtesten durch frühzeitig eingeführte Rituale.
TIPP: Positive Aufforderungen formulieren
Verbote fordern Trotz heraus. Leichter zu befolgen sind positive Formulierungen mit Begründungen, die das Kind nachvollziehen kann. Zum Beispiel: „Du möchtest dein Auto auch heil zurückbekommen, also sei bitte vorsichtig mit Maries Teddy.“
Vorbilder sind Trumpf
Schon das Baby winkt der Mama begeistert beim Abschied zu, bedeckt den Teddybär mit einer Decke, wenn er schlafen soll und versucht mit dem Löffel Brei zu essen, wenn die Familie zusammen beim Mittag sitzt. Dass dabei der ein oder andere Löffel daneben geht und anfänglich alles erst einmal betastet und zerkrümelt werden muss, gehört dazu. Wenn das Matschen mit dem Brei allerdings zur reinen Provokation wird, weil der Hunger längst gestillt ist, heißt es eingreifen. Konsequentes Handeln sichert den Familienfrieden und gibt den „Benimm-Neulingen“ wichtige Orientierungshilfen.
Ausnahmen sind erlaubt
Wenn die Regeln klar sind, darf es auch mal Ausnahmen geben. Zum Beispiel einen „Finger-food-Tag“, an dem alle Familienmitglieder einmal Spaghetti mit dem Mund schlürfen können. Und so spielerisch feststellen können, dass der Gebrauch von Löffel und Gabel durchaus eine wertvolle Hilfe sein kann.
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Die innere Haltung zählt
Gutes Benehmen sollte nichts mit Drill zu tun haben, sondern eine innere Haltung ausdrücken. Dazu gehört es neben den erlernten Dankes- und Grußformeln, auch persönliche Interessen mal hinten an stellen zu können oder nicht immer alles auszusprechen, nur „weil es doch die Wahrheit ist“ (die den Anderen unter Umständen unnötig verletzt). Mindestens genauso wichtig ist die Erfahrung, dass Regeln auch für die Großen gelten und mit den „Benimm-Pflichten“ auch „Rechte“ einhergehen. Zum Beispiel das Recht, „Nein!“ sagen zu dürfen, wenn Fremde oder Bekannte umarmt oder geherzt werden möchten. Oder sich Erwachsene in der Einkaufsschlange einfach vordrängeln.
Vor allem aber zählt dazu, die Grenzen seiner Mitmenschen zu akzeptieren und sie nicht ungefragt zu übertreten. Übrigens ein Punkt, in dem wir Erwachsenen nicht immer mit leuchtendem Beispiele voran gehen. Denken sie nur daran, wie häufig manch gut meinende Fremde ihren Kopf ungefragt in den Kinderwagen eines Neugeborenen steckt, um diesem mal kurz die Wange zu tätscheln. Hat sie sich wohl vorher gefragt, wie der hilflose kleinen Zwerg sich fühlt, wenn er plötzlich „überfallen“ wird von jemandem, der ganz anders riecht und aussieht als die Mama?
TIPP: Ansprüche altersgerecht anpassen
Ein Zweijähriges kann noch nicht kleckerfrei Essen, begreift aber schnell, dass es vom gemeinsamen Essen ausgeschlossen wird, wenn es das Besteck zum x-ten Mal auf den Boden wirft. Für einen Fünfjährigen stellt der Umgang mit Messer und Gabel vielleicht noch eine Herausforderung dar, dafür kann er eine Tasse bereits so gerade halten, dass er seinen Kakao nicht verschüttet. Passen Sie Ihre Ansprüche an gutes Benehmen den Fähigkeiten und Bedürfnissen des Kindes an.
Fazit
Gutes Benehmen hat viel mehr mit Herzensbildung und Konsequenz zu tun, als mit antrainierten Verhaltensmustern. Am einfachsten lernen Kinder das Gewünschte, wenn Mutter und Vater das vorleben, was ihnen im Alltag wichtig ist. Die besten Erfolgsaussichten hat dabei, wem es gelingt, die Regeln spielerisch in den Alltag einzubauen. Dann drücken gute Manieren das aus, wofür sie gedacht sind: einen respektvollen, aufmerksamen, höflichen und gleichwürdigen Umgang miteinander.
Gutes Benehmen: was Kinder in welchem Alter lernen
Jedes Kind ist einzigartig, auch in der Geschwindigkeit seiner Entwicklung. Die folgende Übersicht sollte daher nur als Anhaltspunkt verstanden werden:
Das können schon Zweijährige:
- die Zauberwörter „Bitte“ und „Danke“ verstehen, wenn sie ihnen – mit Gesten unterstützt – vorgelebt werden,
- verstehen, dass Besteck und Teller auf den Tisch gehören und nicht hinunter geworfen werden sollen,
- maximal eine Viertelstunde ruhig mit am Tisch sitzen (danach darf das Kind aufstehen).
Das können schon Dreijährige:
- „Bitte“ und „Danke“ sagen und einen Gruß freundlich erwidern,
- vor dem Essen die Hände waschen und beim Essen nicht alle Speisen anfassen und wieder zurücklegen,
- nicht mit vollem Mund sprechen,
- nach jedem Toilettengang die Hände waschen,
- beim Gähnen, Niesen und Husten die Hand vor das Gesicht halten,
- beim Sprechen sein Gegenüber anschauen und Blickkontakt aushalten,
- Verschnaufpausen bei anderen akzeptieren,
- eigenes und fremdes Eigentum respektieren und pfleglich behandeln,
- Lebewesen (Menschen, Tiere, Pflanzen) achten und nicht quälen (z. B. Blumen pflücken, aber nicht zu zertreten).
Das können schon Vier- bis Sechsjährige:
- nach dem Aufstehen freundlich „Guten Morgen“ sagen; grüßen wenn man kommt und sich verabschieden, wenn man geht,
- sich morgens und abends Gesicht und Hände waschen und die Zähne putzen,
- nach dem Niesen ein Taschentuch benutzen,
- kleckerfrei essen, kauen mit geschlossenem Mund,
- für die Dauer eines Mahlzeit-Ganges am Tisch sitzen bleiben,
- beim Tisch decken oder beim Abräumen helfen,
- in der Öffentlichkeit nicht rülpsen, pupsen oder popeln,
- sich entschuldigen, wenn man trotzig oder zornig war.
Manchmal haben Kinder noch nicht die körperlichen Voraussetzungen für bestimmte Umgangsformen. So wird ein Kind, das Schwierigkeiten hat, Stift oder Schere zu halten, in den seltensten Fällen mit Messer und Gabel umgehen können. Lass deinem Kind also noch ein Weilchen Zeit. Sehr hilfreich ist es für Kinder, wenn du eine Umgebung und Atmosphäre schaffst, die gutes Benehmen erleichtert. Zum Beispiel mit dir gemeinsam den Tisch schön decken, mit Tischdecke und Blumen. Oder Kinderstühle verwenden, die die richtige Größe haben, um entspannt und aufrecht am Tisch zu sitzen.
Quelle: Franziska von Au, Knigge für Kinder, Urania 2oo5.