Alleingeboren: Das Gefühl, dass jemand fehlt
Nadine ist erfolgreich im Beruf, hat einen liebevollen Partner, eine schöne Wohnung und doch leidet die 29-Jährige seit ihrer Kindheit an Phasen tiefer Traurigkeit. Verlustängste, das Gefühl, nicht „in Ordnung“ zu sein, ein hoher Anspruch an sich selbst begleiten sie ihr Leben lang. „Ich hatte immer den Eindruck, dass mir etwas fehlt“, sagt die Grundschullehrerin aus Dortmund. Jetzt hat sie mit Hilfe einer Psychotherapeutin herausgefunden, dass sie mit hoher Wahrscheinlichkeit eine sogenannte Alleingeborene ist. Das bedeutet, dass sie im Mutterleib einen Zwilling hatte, der zu einem frühen Zeitpunkt der Schwangerschaft gestorben ist.
Buchtipp
Am Anfang waren wir zu zweit - Ein Buch für verlassene Zwillingskinder
Einfühlsam und liebevoll illustriert, beschreibt "Am Anfang waren wir zu zweit" einen frühen, vorgeburtlichen Verlust aus der Kinderperspektive: Sandra hatte im Mutterleib einen Zwilling, den sie sehr bald wieder gehen lassen musste. In einem Begleittext für Eltern und Fachleute beschreibt die Autorin mögliche Folgen, aber auch heilsame Umgangsweisen, die sich in ihrer therapeutischen Arbeit bewährt haben.
„Der Autorin gelingt es, Kindern und Erwachsenen gleichermaßen ein Empfinden für die tiefe zwischenmenschliche Verbundenheit zu vermitteln, die ab frühester Zeit vorgeburtlichen Lebens besteht“, urteilt die Fachzeitschrift „Hebammenforum“. Um auch Kritiker mit Fakten überzeugen zu können, wünscht sich Autorin Thurmann mehr wissenschaftliche Studien.
Ilka-Maria Thurmann, Uta Fischer, Mabuse Verlag 2014, 16,90 Euro, ISBN 978-3-940-52971-8
Eigentlich gäbe es viel mehr Zwillinge
Jedes zehnte Baby, das geboren wird, hat sein Leben als Zwilling begonnen. Die Mütter verlieren bereits in der Frühschwangerschaft den zweiten Embryo. Manchmal wird der winzige Mensch auch von der Gebärmutter vollständig resorbiert. Ärzte und Hebammen können das häufig beim Ultraschall oder auch später bei der Entbindung feststellen.
Aufgrund der gestiegenen Zahl künstlicher Befruchtungen gewinnt das Phänomen zunehmend an Bedeutung. Jedes Jahr kommen in Deutschland über 20.000 Zwillinge zur Welt. Es gebe viel mehr Zwillinge, als gemeinhin angenommen werde, hat Peter Pharoah, Mediziner von der Universität Liverpool, in einer langjährigen Studie herausgefunden.
Abschied nehmen mit therapeutischer Hilfe
Der frühe Verlust kann weitreichende Folgen für den verbleibenden Zwilling haben, davon sind Wissenschaftler und Fachleute inzwischen überzeugt. Sie glauben, dass der überlebende Zwilling den Verlust schon im Mutterleib sehr wohl wahrnimmt. Davon geht auch auch Ilka-Maria Thurmann aus.
Die Diplom-Pädagogin, Kinder- und Jugendlichen- und Regressionstherapeutin arbeitet seit vielen Jahren mit „Alleingeborenen“. Sie machen etwa ein Fünftel ihrer Klientel aus. „Viele Betroffene kommen mit einer unerklärlichen Trauer in meine Praxis. Gemeinsam versuchen wir dann, den Grund dafür zu finden“, erklärt sie. In manchen Fällen liege der Gedanke nahe, dass es in der Vergangenheit einen verlorenen Zwilling gegeben haben könnte. Den „Alleingeborenen“ hilft sie dann, sich von diesem zu verabschieden.