Selbstwertgefühl: Das Gefühl zu sich selbst
Zuerst fliegt der grüne Buntstift auf den Teppich. Einen Moment später knallt die ganze Schachtel mit lautem Wumms auf den Boden. Dann zerreißt Lea wütend ihr Bild. „Ich kann nicht malen! Die Anna hat Recht“, schreit sie zornig. Die Tränen kullern, bis Leas Mama aus der Fünfjährigen herauskriegt, dass sie in der Kita von anderen Kindern wegen ihrer Bilder ausgelacht wird. Sie nimmt Lea fest in den Arm und tröstet sie.
Im kindlichen Alltag gibt es viele solcher Situationen, die in der Summe die Entwicklung des Selbstwertgefühls sowohl fördern als auch hemmen können.
„Kinder werden als unbeschriebenes Blatt in die Welt hineingeboren und sind ab der ersten Sekunde sehr aufnahmefähig“, erklärt Tatjana Rosenberg-Helmke, Systemische Familientherapeutin beim Münchner Institut für systemische Weiterbildung. Wie das Wort „Selbstwertgefühl“ ja schon zeige, gehe es dabei um das Gefühl zu sich selbst, zur eigenen Person und zum eigenen Wert. „Nur wenn Kinder bereits von klein auf lernen, dass sie geliebt und beschützt werden, haben sie die Möglichkeit, sich gesund zu entwickeln.“
Schon Babys definieren ihren Selbstwert
Zwar spielen Veranlagungen eine Rolle, wichtiger aber sind die Begegnungen, die ein Kind bereits nach seiner Geburt erfährt. Tatjana Rosenberg-Helmke erklärt: „Schon Babys beginnen durch die Mimik, Gestik und das Verhalten der Eltern ihren Selbstwert zu definieren: Wie viel Aufmerksamkeit bekomme ich? Sind meine Eltern da, wenn ich nach ihnen schreie?“ Kinder brauchen also von Beginn an Sicherheit und Zuwendung für eine gesunde Entwicklung ihres Selbstwertgefühls.
Ein Kind sollte wissen, dass es richtig ist, so wie es ist
„Im Kleinkindalter kommen Regeln hinzu. So lernen die Kinder bereits früh, in einem bestimmten Maß, Entscheidungen zu treffen und die Konsequenzen dafür zu tragen“, fügt die Familientherapeutin hinzu. Und: Dem Kind einen authentischen, gesunden Umgang mit Emotionen vorzuleben, die natürlich nicht immer alle schön, aber eben menschlich sind: „Erst wenn ein Kind weiß, dass es genau richtig ist, wie es ist, mit all den Emotionen, dem Befinden und dem Sein, hat es die Möglichkeit sich gesund zu entwickeln.“
Experten-Interview: „Kinder haben ein wahninniges
Feingefühl für Unstimmigkeiten“
Tatjana Rosenberg-Helmke betreibt als Systemische Therapeutin, Paar- und Familientherapeutin
ihre eigene Praxis Rosenberg (www.praxisrosenberg.com).
kidsgo: Was sind Anzeichen, dass in Sachen Selbstwertgefühl etwas nicht stimmt?
Tatjana Rosenberg-Helmke: Kinder sind von Grund auf sehr neugierig, wissbegierig und mutig. Sind sie eher ängstlich, zurückgezogen und träge, wäre das ein Grund, sich Unterstützung zu holen. In der Kindheit und Jugend geht es weiter, da das Selbstwertgefühl weiterhin auch vom sozialen Umfeld geprägt werde: Hier braucht es dann besonders Grenzen. Sie geben den Kindern Sicherheit und Mut.
Warum sollten Eltern ihr Kind immer fühlen lassen, dass es in Ordnung so ist, wie es ist? Welche positiven Auswirkungen hat das auf sein gesamtes Leben?
Ein Kind hat genauso wie eine erwachse Person Emotionen wie Freude, Wut, Trauer, Ärger. Es weiß jedoch in erster Linie nicht mit diesen Emotionen umzugehen. Kinder schauen sich alles von ihren Eltern und weiteren Bezugspersonen ab: „Wenn Mama und Papa so mit ihren Gefühlen umgehen, dann muss das wohl richtig sein.“ Kommen andere Bezugspersonen im Laufe des Heranwachsens hinzu und gehen diese anders mit Emotionen um, dann fängt ein Kind an, den Umgang zu hinterfragen und für sich den richtigen zu entwickeln.
Warum ist es so wichtig, dass Eltern auch Gefühle zeigen und darüber reden?
Des Weiteren haben Kinder ein wahnsinniges Feingefühl für Unstimmigkeiten. Wenn sich Eltern zum Beispiel streiten, so reagieren Kinder sofort. An dieser Stelle ist es sehr wichtig, dem Kind zu zeigen, dass es richtig ist mit seinem Gefühl und jegliche Arten von Emotionen zum Leben dazu gehören und sein dürfen. Bekommt zum Beispiel ein Kind immer nur gesagt: „Nein, nein. Papa und Mama sind nicht wütend und streiten nicht“, so lernt es auf Dauer, dass seine Gefühle falsch sind und verliert langfristig gesehen das Vertrauen zu sich selbst. Besser ist es, in solchen Situationen zu sagen: „Ja, Mama und Papa streiten auch ab und zu und manchmal sind sie wütend aufeinander, aber das gehört dazu und hat nichts mit Dir zu tun. Wir klären das untereinander und haben uns trotzdem lieb.“
Was sind aus Ihren Augen absolute No-Gos, weil sie dem kindlichen Selbstwertgefühl schaden?
Keine Liebe oder Zuneigung zu zeigen und auch keine entsprechende Mimik beziehungsweise Gestik als Reaktion auf das Verhalten des Kindes. Dem Kind ständig zu vermitteln, dass es mit seinen Gefühlen falsch ist. Keine Regeln, keine Struktur und somit keine Sicherheit zu geben – aber auch dem Kind alles abzunehmen und zu viel tun, kann dem Selbstwertgefühl schaden.
Liebe Frau Rosenberg-Helmke, vielen Dank für das Gespräch!