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Muttertät – Der Wandel, über den wir sprechen sollten!

Muttertät – Was beim Elternwerden in uns wächst: die inneren Veränderungen, die mit dem Elternwerden einhergehen – körperlich, emotional, geistig, sozial und neurologisch.

In diesem Artikel:

Was ist Muttertät?

Muttertät – abgeleitet vom englischen Matrescence (wie Adolescence = Pubertät) – beschreibt die tiefgreifende, mehrdimensionale Transformation, die eine Frau (oder gebärende Person) durchläuft, wenn sie Mutter wird.

Es ist ein Begriff für etwas, das Millionen Menschen erleben, aber bisher kaum benannt wurde: die inneren Veränderungen, die mit dem Elternwerden einhergehen – körperlich, emotional, geistig, sozial und neurologisch.

Wie in der Pubertät wird auch in der Muttertät alles neu sortiert. Nur passiert dies in kürzerer Zeit – und parallel zur Versorgung eines Neugeborenen.

Was die Wissenschaft zeigt

Dank moderner Neurowissenschaft wissen wir heute:

Mutterschaft verändert das Gehirn – strukturell, messbar und dauerhaft.

Die niederländische Forscherin Elseline Hoekzema konnte mithilfe von MRT-Scans zeigen, dass sich das Gehirn nach Schwangerschaft und Geburt so stark verändert, dass ein Computer mit 100 %iger Treffsicherheit erkennen konnte, ob es sich um das Gehirn einer Mutter handelte oder nicht.

Vor allem fünf Bereiche im Gehirn werden neu organisiert – darunter Areale für:

                  • Empathie

                  • Fürsorge

                  • Selbstreflexion

                  • emotionale Regulation

                  • soziale Wahrnehmung

Dabei wird die sogenannte graue Substanz in diesen Regionen nicht „weniger“ im Sinne eines Abbaus, sondern spezialisierter: Es entsteht eine gezieltere, effizientere Verarbeitung von Informationen – wie bei einem Software-Update.

Kurz gesagt:

Du wirst nicht weniger leistungsfähig – dein Gehirn wird fokussierter auf das, was jetzt zählt: Bindung, Intuition, Beziehung und Schutz.

Und was ist mit den Vätern?

Auch Väter (und andere nicht-gebärende Bezugspersonen) erleben nachweisbare Veränderungen – wenn sie aktiv Fürsorge übernehmen. Je intensiver der Kontakt zum Kind – insbesondere durch Pflege, Nähe und emotionale Zuwendung – desto stärker verändern sich auch bei ihnen die Hirnregionen, die mit Empathie, Bindung und Fürsorge in Verbindung stehen.

Das bedeutet:

                  • Bindung ist nicht ausschließlich biologisch – sondern beziehungsbasiert

                  • Auch Väter erleben eine „Vatertät“, wenn sie sich einlassen

                  • Dieses Wissen hilft, Mütter zu entlasten und Co-Regulation  partnerschaftlich zu gestalten

Typische Erfahrungen in der Muttertät

Viele Frauen berichten in dieser Phase von tiefgreifenden Veränderungen:

• Emotionaler Intensität: Freude, Trauer, Zweifel, Liebe, Erschöpfung – manchmal alles gleichzeitig. Ambivalente Gefühle treten sehr häufig auf.

• Identitätsfragen: „Wer bin ich jetzt?“ – Das frühere Selbstbild fühlt sich plötzlich nicht mehr passend an.

• Veränderten Prioritäten: Beruf, Freundschaften, Lebensstil – vieles wird neu bewertet.

• Körperlicher Veränderung: Der Körper fühlt sich mal kraftvoll, mal fremd an. Er hat Großes geleistet – das braucht Zeit zur Integration.

•Neuen Beziehungsdynamiken: Partnerschaft, Freundschaften, selbst das Verhältnis zu den eigenen Eltern verändert sich – oft tiefgreifend.

Gastautorin Annika Winn

In meiner Arbeit als Physiotherapeutin für Frauen und Doula durfte ich viele Frauen in Schwangerschaft, Wochenbett und Muttersein begleiten.

Dabei habe ich immer wieder gesehen, wie heilsam es sein kann, einen ehrlichen Raum zu schaffen – einen Raum, in dem auch Unsicherheiten und widersprüchliche Gefühle Platz haben dürfen.

Denn genau diese Ambivalenzen sind oft ein Zeichen innerer Veränderung – ein Ausdruck davon, dass sich etwas neu sortiert.

Und: Sie dürfen da sein.

Gleichzeitig beobachte ich, wie sehr Frauen heute immer noch unter einem gesellschaftlichen Idealbild leiden: Stets liebevoll, kompetent, ausgeglichen – und das am besten direkt nach der Geburt. Mediale Bilder vermitteln oft eine heile, harmonische Oberfläche. Doch was wir nicht  sehen, sind die Zweifel, das Chaos, das Suchen – und genau das lässt viele Frauen glauben, sie seien „nicht genug“.

Ich bin aus tiefstem Herzen davon überzeugt, dass das Wissen über die Muttertät die mentale Gesundheit von Müttern und Vätern positiv beeinflussen kann.

Denn: Mütter sind wir nicht – Mütter werden wir erst.

Persönliches Wachstum braucht Zeit, Mitgefühl, Verständnis und Liebe.

Und auch die Liebe zum Kind darf wachsen – sie wird nicht automatisch mitgeboren.

In einer hektischen Welt einen geschützten Raum zu haben, um erspüren zu dürfen, was sich gerade alles verändert – und diese Veränderungen würdigend begleitet zu wissen, das wünsche ich mir für jede Frau.

An dieser Stelle möchte ich den Wortschöpferinnen des Begiffes Muttertät Sarah Galan und Natalia Lamotte danken.

Annika Winn

Physiotherapeutin für Frauen, Doula & Mutter von zwei Kindern

Mehr zu Annika Winn

@becomemom.annika

 

Warum wir darüber sprechen müssen

Die Muttertät ist eine verletzliche Phase. So wie wir Jugendlichen Zeit, Raum und Begleitung zugestehen, brauchen auch Mütter ein Umfeld, das versteht: Diese Veränderung ist real. Und sie braucht Mitgefühl statt Optimierungsdruck von außen.

Die hormonellen und neurologischen Prozesse machen Mütter (und auch Väter) emotional durchlässiger.

In dieser Übergangszeit kann es zu Ambivalenz, Rückzug, Überforderung oder starker Sensibilität kommen.

Wenn das Umfeld nicht Bescheid weiß, wird dies oft falsch gedeutet – als „Launen“, „Überempfindlichkeit“ oder „Unfähigkeit“.

Wissen kann hier den Unterschied machen:

                  • Es schützt vor Stigmatisierung

                  • Es fördert Selbstmitgefühl

                  • Und es stärkt das soziale Miteinander – privat wie beruflich

„Wenn Frauen wissen, was mit ihnen geschieht, erleben sie sich nicht als instabil – sondern als in Entwicklung.“ – Alexandra Sacks, US-amerikanische Psychiaterin

Die Wissenschaftlerin und Autorin Alexandra Sacks hat mit ihrer Forschung zur Muttertät Pionierarbeit geleistet.

Sie betont: „Wenn Frauen den natürlichen Prozess der Muttertät verstehen, wenn sie wissen, dass Ambivalenzen unter diesen Umständen völlig normal sind und nichts, wofür man sich schämen müsste, würden sie sich weniger allein fühlen, weniger stigmatisiert. Und ich denke, dieses Wissen würde sogar die Zahl der postpartalen Depressionen reduzieren.“

Solche Perspektiven zeigen, wie groß das Potenzial ist, wenn wir über Muttertät sprechen – in Fachkreisen, in Partnerschaften und im gesellschaftlichen Dialog.

Was hilft in dieser Phase?

1. Wissen & Vorbereitung
Schon vor der Geburt zu erfahren, dass Muttertät existiert, hilft beim Annehmen der neuen Rolle.

2. Emotionale Begleitung
Hebammen, Doulas, Mütterpflegerinnen, Freund:innnen, verständnisvolle Verwandtschaft oder geschulte Fachpersonen geben Halt – sie sind wie Mentor:innen für einen Übergang.

3. Soziale Verbundenheit
Andere Mütter in geschützten Räumen treffen normalisiert und entlastet: „Ach, dir geht’s genauso?“

4. Kleine Achtsamkeitsinseln im Alltag
Schon ganz kleine Momente – eine bewusste Atmung, ein warmer Tee, ein Blick aufs schlafende Baby – können zu inneren Ankerpunkten werden. Sie helfen, den Druck loszulassen und sich selbst daran zu erinnern:

„Ich bin gut so, wie ich bin. Ich darf das alles noch lernen. Ich darf wachsen.“

Diese Mini-Pausen können helfen, den Wandel nicht nur zu überstehen – sondern ihn zu würdigen. Denn Muttertät ist nicht das Ende von etwas – sie ist ein Anfang. Ein Prozess. Und der darf liebevoll begleitet werden.

5. Professionelle Unterstützung
Wenn es schwer wird: Psychologische Beratung, Gespräche, Gruppen oder therapeutische Angebote sind kein Zeichen von Schwäche, sondern von Stärke.

Wenn du dir unsicher bist, ob du eine postpartale Depression haben könntest, auf der Seite Schatten und Licht findest du Fragebögen zur Einordnung deiner Symptome.

6. Hilfe annehmen – und damit auch geben
Kein Mensch ist dafür gemacht, alles allein zu schaffen. Gerade in der Schwangerschaft und im Wochenbett ist Unterstützung kein Zeichen von Schwäche – sondern Ausdruck von Verbindung.

Und: Helfen macht nachweislich glücklich. Studien zeigen, dass Hilfsbereitschaft die Lustzentren im Gehirn aktiviert, Stress reduziert und das Wohlbefinden fördert – für beide Seiten. Wenn du um Hilfe bittest, gibst du deinem Gegenüber die Chance, sich verbunden, gebraucht und wirksam zu fühlen.
Denn gerade in dieser Phase deines Lebens darfst du dich erinnern:

• Muttertät ist kein Defizit – sie ist eine Reifung.

• Ein innerer Umbau, der Kraft kostet, aber auch neue Fähigkeiten bringt und der Unterstützung brauchen darf.

• Muttertät ist ein Übergang – kein Ausnahmezustand, sondern eine Phase intensiver Neuorganisation.

• In einer Gesellschaft, in der Leistung zählt und Mutterschaft oft idealisiert wird, braucht es mehr Raum für das Dazwischen: Für das „Ich wachse da gerade hinein“, für das „Ich finde mich neu“.

Es ist Zeit, diesen Wandel sichtbarer zu machen, sprachfähig zu halten und würdevoll zu begleiten.

Denn wer die Muttertät versteht, kann Mütter stärken – und damit auch Familien, Beziehungen und Gesellschaft als Ganzes.