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Hebamme: Gehalt zu niedrig für umfassende Beratung

Sie übernehmen eine große Verantwortung für Mutter und Kind, arbeiten oft 60 Stunden pro Woche und müssen ständig erreichbar sein: Freiberufliche- und Beleghebammen haben einen außerordentlich anstrengenden Beruf. Dennoch sind ihre Einnahmen so gering, dass viele von ihnen ausgerechnet den Kernbereich ihres Berufs aufgeben: die Geburtshilfe.

In diesem Artikel:

Dringend Hebamme gesucht - Viele Schwangere finden keine Hebamme

Vor wenigen Wochen ist Sabine Schulze mit ihrer Familie nach Köln gezogen. Kein leichter Umzug für die 35Jährige: Ihr Bauch ist bereits rund – das Baby, ein Mädchen, soll in drei Monaten auf die Welt kommen. Die Freude über die schöne neue Wohnung und auf das Kind wird derzeit von einer Sorge überschattet: Sabine fürchtet, keine Beleghebamme mehr zu finden, also keine freiberufliche Hebamme, die sie bei der Entbindung ins Krankenhaus begleitet.

Ihre Sorge ist berechtigt. Immer öfter haben schwangere Frauen Schwierigkeiten, eine selbstständige Hebamme zu engagieren, die Geburtshilfe anbietet und noch frei ist. Zu wenig Einkommen, zu viele Ausgaben: Geburtshilfe – das lohnt sich für viele Hebammen nicht mehr. Nach Angaben des Deutschen Hebammenverbandes haben 10 bis 15 Prozent der freiberuflichen Beleghebammen in den vergangenen eineinhalb Jahren die Geburtshilfe aufgegeben.

Eine von ihnen ist die Kölnerin Renate Egelkraut. Im Laufe von 19 Berufsjahren hat sie fast tausend Babys auf die Welt verholfen und sie mit sicheren, kräftigen Händen im Leben empfangen. Dass sie Anfang 2009 die Geburtshilfe an den Nagel hängen musste, bedauert sie: „Geburten begleiten heißt: ganz nah am Leben dran zu sein.“

Schon im Alter von 16 Jahren stand ihr Berufswunsch fest: Hebamme wollte sie werden und nichts anderes. Durchgreifend, zupackend, ein Fels in der Brandung. Bis heute fasziniert sie ihr Beruf, obwohl sie bei keiner Geburt mehr dabei ist. Immer seltener packt sie zu, immer öfter berät sie die Eltern vor allem.

Interview

Dr. Edith WolberZu unserem Thema „Hebamme gesucht“ das Interview mit Frau Dr. Edith Wolber, Pressesprecherin des Deutschen Hebammenverbandes.

Interview "Hebamme gesucht"

Eine angestellte Hebamme...

... arbeitet im Schichtdienst unter ärztlicher Leitung. Sie hat einen Arbeitsvertrag und bekommt monatlich ihren Lohn von der Personalstelle ihres Arbeitgebers, in der Regel eines Krankenhauses, ausgezahlt.

Eine freie Hebamme...

... arbeitet selbstständig. Sie übernimmt Schwangerenvorsorge, begleitet Hausgeburten, betreut Frauen im Wochenbett und berät sie beim Stillen. Die Krankenkassen, mit denen die Hebammen abrechnen, übernehmen die Kosten für diese Leistungen. Rufbereitschaft gehört zum Alltag von freien Hebammen.

Eine Beleghebamme...

... ist eine freie Hebamme, die mit einer oder mehreren Geburtskliniken einen Belegvertrag, eine privatrechtliche Vereinbarung, abgeschlossen hat. Der Vertrag erlaubt der Hebamme, Einrichtung und Material der Klinik im Rahmen der Geburtshilfe in Anspruch zu nehmen. Die Beleghebamme rechnet mit der Krankenkasse der betreuten Frau direkt ab. Schwangere, die sich für eine Beleghebamme entscheiden, haben Frauen gegenüber, die ohne Beleghebamme in einem Krankenhaus entbinden, entscheidende Vorteile: Sie werden fernab von der Krankenhausroutine im Kreißsaal individuell und ohne Schichtwechsel von einer Hebamme ihres Vertrauens betreut.

Beiträge für Berufshaftpflicht explodieren

„Das Kernproblem der Geburtshilfe sind die hohen Beiträge, die Hebammen in die Berufs-Haftpflichtversicherung zahlen müssen“, berichtet die 44Jährige, als sie sich am Morgen an den Schreibtisch ihrer Hebammenpraxis setzt. Tatsächlich sind die Beiträge für die Berufshaftpflicht explodiert. Zahlte Renate Egelkraut 2006 noch 1.300 Euro in die Haftpflichtversicherung, müsste sie heute das Dreifache aufbringen: 3.800 Euro jährlich. Seitdem sie sich ausschließlich auf Schwangerenvorsorge und die Nachsorge konzentriert, ist der Pflichtbeitrag auf ein paar hundert Euro gesunken.

„Der Grund für die in den vergangenen Jahren stetig angestiegenen Haftpflichtprämien liegt in den enorm gestiegenen Aufwendungen für Schadensfälle. Dabei ist gar nicht die Anzahl der Schäden gestiegen, sondern der einzelne Schaden ist heute wesentlich höher als noch vor zehn Jahren“, erklärt Bernd Hendges, Geschäftsführer der Securon Versicherungsmakler GmbH, die mit den Versicherungsgesellschaften die Haftpflichtbeiträge für Hebammen aushandelt.

Konkret heißt das: Immer mehr frühgeborene und behinderte Kinder überleben aufgrund der besseren Möglichkeiten der modernen Medizin. Doch wegen ihrer körperlichen und geistigen Einschränkungen müssen sie ein Leben lang gepflegt werden. Das kostet. „Auch die Höhe des zugesprochenen Schmerzensgeldes stieg stark an“, so Hendges. Die Versicherungsgesellschaften müssen sich deshalb wappnen. Zumal Schadensfälle erst nach 30 Jahren verjähren – so ist es gesetzlich geregelt.

Telefon klingelt kontinuierlich

Mutter mit Baby im Gespräch mit Hebamme mit zu hoher Haftpflicht

Bild: Noel Matoff

Auch ohne Geburtshilfe ist der Alltag für Renate Egelkraut über alle Maßen ausgefüllt. Schon am Morgen klingelt das Telefon kontinuierlich. „Guten Tag, ich denke über eine Hausgeburt nach. Können Sie mich da beraten?“ - „Seit Stunden spüre ich ein Ziehen in der Leiste – kommen Sie gleich vorbei?“ - „Sven hat seit 48 Stunden keine Verdauung mehr gehabt – was soll ich tun?“ – „Dauernd will Marta an die Brust, meine Brustwarzen sind schon ganz wund!“ So lauten die Fragen und Hilferufe. Renate Egelkraut bemüht sich, für jeden eine hilfreiche und individuelle Antwort zu finden.

„Die Arbeit ist differenzierter und individueller geworden. Eltern fordern mehr Begleitung“, erzählt sie. Sie ist Hebamme aus Leidenschaft.

Kaum Geld für Beratung

Beratung macht mittlerweile 90 Prozent von Renate Egelkrauts Arbeit aus. Und sie berät gerne. Dennoch ist das viele Reden für sie problematisch: Nicht alle Krankenkassen übernehmen die Kosten präventiver, also vorbeugender Leistungen – und dazu gehören viele Beratungen.

Susanne Schäfer, Vorsitzende des Bundes freiberuflicher Hebammen Deutschlands (BfHD), erklärt, warum das so ist: „Medizinische Leistungen von Heb ammen sind in der Reichsversicherungsordnung von 1911 geregelt, einem hundert Jahre alten Regelwerk. Präventive Leistungen wurden hier nicht aufgenommen.“ Der Hebammenverband fordert deshalb, dass Hebammenleistungen in Zukunft im Sozialgesetzbuch geregelt werden, in dem auch Vorsorge ihren Platz hat. Dann müssten alle Krankenkassen die Kosten der Beratung übernehmen, die ansonsten Hebammen unentgeldlich machen.

Renate Egelkraut plant unterdessen die Reihenfolge ihrer Hausbesuche. Nicht alle Fragen und Probleme können am Telefon geklärt werden. Konzentriert packt sie ihre Hebammentasche. Für die Vorsorge braucht sie unter anderem ein Dopton, ein kleines Hand-Ultraschallgerät, mit dem die kindlichen Herztöne hörbar gemacht werden können, und Material für die Blutabnahme. Für die Nachsorge steckt sie Stillöl, Material zum Fäden ziehen und Calendula-Essenz zur Nabelpflege ein.

Während Renate Egelkraut mit ihrer blauen Hebammentasche durch die Stadt von Hausbesuch zu Haus besuch radelt, nimmt sie Anrufe entgegen. Jede Sekunde wird genutzt. Sie ist nicht nur Hebamme aus Leidenschaft, sondern auch Fachfrau in Sachen Zeitmanagement. Das muss sie auch, um von ihrem
Beruf leben zu können.

An diesem Tag stehen drei Hausbesuche an: Für jeden Hausbesuch, egal wie lange er dauert, bekommt sie 27 Euro brutto plus Wegegeld. Mehr Kosten übernehmen die Krankenkassen nicht für die werdenden und frisch gebackenen Eltern, mehr zahlen sie daher den Hebammen nicht aus.

27 Euro pro Hausbesuch

Hebamme mit zu wenig Stundenlohn zeigt Mutter das Baby-baden

Bild: Noel Matoff

Seit 2007 müssen Hebammen ihre Vergütungssätze selbstständig mit den Krankenkassen aushandeln. „Die Vertreter der Krankenkassen schätzen durchaus unsere Arbeit“, sagt Susanne Schäfer. „Aber uns fehlen die Rahmenbedingungen, die uns Verhandlungsmacht verleihen könnten.

Renate Egelkraut: „Wenn Krankenkassen mehr Kosten der Schwangerenvorsorge und Nachsorge abdecken würden, könnten Hebammen auch die hohen Haftpflichtbeiträge zahlen.“ Nach Angaben des Hebammenverbandes verdient eine freiberufliche Hebamme und Geburtshelferin pro Jahr durchschnittlich 14.000 Euro – 7,50 Euro pro Stunde netto.

Hebamme aus den USA erhält „Alternativen Nobelpreis“

Die amerikanische Hebamme Ina May Gaskin erhielt am 9. Dezember in Stockholm den „Right Livelihood Award 2011“. In den USA ist ihr Beruf ebenso vom Aussterben bedroht wie in Deutschland. Gaskin lehre und verbreite Geburtsmethoden, die Frauen in den Mittelpunkt stellen und die körperliche wie geistige Gesundheit von Mutter und Kind fördern, heißt es in der Begründung der Jury. Und weiter: „Ina May Gaskin ist ein Vorbild für Hebammen, die es wagten, andere Wege zu gehen im Versuch, Geburtshilfe menschlicher zu gestalten, und die den Frauen die Möglichkeit geben, selbst zu entscheiden, welche Art der Entbindung für sie persönlich die richtige ist.“

kidsgo gratuliert Frau Ina May Gaskin ganz herzlich zum Alternativen Nobelpreis 2011. Eines ihrer Bücher stellen wir auf der linken Seite vor!

Keine Hobbys, wenig Freunde

Ob sich die Einkommenssituation der Hebammen in den nächsten Jahren verbessern wird, weiß Renate Egelkraut noch nicht. Einstweilen arbeitet sie wie gewohnt weiter: 60 Stunden in der Woche, samstags bis 14 Uhr, sonntags so wenig wie möglich. Wie das geht? „Der Kühlschrank muss voll sein - keine Hobbys, keine Freunde“, sagt sie nüchtern. „Das ist einfach so.“ Möglichst viel ihrer Schreibtischarbeit erledigt die Hebamme, wenn ihre eigenen drei Kinder schlafen.

Dann telefoniert sie auch mit Kolleginnen, mit denen sie zusammen arbeitet. „Kannst du den Geburtsvorbereitungskurs nächste Woche übernehmen?“ – „Das Kind von Frau Weber will nicht an die Brust. Ich habe alles versucht. Hast Du noch einen Tipp?“ So geht es hin und her.

Wieder in die Geburtshilfe einzusteigen, kann sich Renate Egelkraut durchaus vorstellen. „Schließlich habe ich noch 25 Berufsjahre vor mir.“ Vielleicht hat die Politik bis dahin für bessere Rahmenbedingungen für Hebammen gesorgt. Ansonsten, warnt Susanne Schäfer, geben immer mehr Hebammen die Geburtshilfe auf.

„Die Folge wird sein, dass Frauen kaum noch Wahlfreiheit haben, wo sie ihr Kind zur Welt bringen. Hausgeburten und Entbindungen im Geburtshaus sind dann immer seltener möglich.“ Sie selbst hat nach 15 Jahren in 2011 erstmals keine Hausgeburt begleitet. Sabine Schulze hat sich mittlerweile damit abgefunden, in einem Krankenhaus ihrer Wahl zu entbinden und sich von einer angestellten Hebamme helfen zu lassen. Eine Gelegenheit, sie vorher kennenzulernen, hat sie nicht. „Hoffentlich ist bei meiner Entbindung im Kreißsaal nicht zu viel los, so dass ich mir nicht eine Hebamme mit einer anderen Frau teilen muss“, hofft sie.

Buchtipp "Die selbstbestimmte Geburt"

Die selbstbestimmte Geburt Buch


Ein umfassendes Buch zur Vorbereitung auf die selbstbestimmte Geburt, mit dem kompetenten Wissen und der Erfahrung der renommierten Hebamme. Sie bestärkt Frauen darin, der faszinierenden Kraft ihres Körpers zu vertrauen, mit der sie ihr Kind auf die Welt bringen können. In der Klinik, im Geburtshaus oder zuhause. Ergänzt wird das Buch durch sehr bewegende Erzählungen von Frauen, die eine selbstbestimmte Geburt erlebten und damit andere ermutigen, auf sich selbst zu vertrauen und ihren eigenen Weg zu gehen.
Ina May Gaskin: Die selbstbestimmte Geburt, Kösel Verlag, 358 Seiten kartoniert, 17,95 Euro, ISBN 978-3-466-34477-2