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Fremdeln: Warum Babys fremdeln und wie Eltern mit der Fremdelphase umgehen

Ein schreiendes Baby, das sich partout nicht von Mamas Arm lösen will. Fremdelnde Kinder sind anstrengend. Aber: Sie fremdeln niemals absichtlich, sondern aus Angst, ihre Bezugsperson zu verlieren. Wir fragen die Bindungsforscherin Prof. Dr. Fabienne Becker-Stoll, wie Eltern ihr fremdelndes Kind besser verstehen und es in dieser Fremdelphase unterstützen können.

In diesem Artikel:

Wann und warum fremdeln Babys?

„Mia ist ein gutes halbes Jahr alt. Wir sind im Familienalltag angekommen“, erzählt ihre Mama Larissa. „Ich genieße die Zeit mit Mia, das Kuscheln, die Nähe, ihr Lachen, ihre Freude an den ganz kleinen Dingen der Welt. Gleichzeitig spüre ich aber das Bedürfnis, auch mal wieder allein ohne Kind unterwegs sein zu wollen. Eine Stunde zum Sport gehen, mal ein Nachmittag nur für mich. Doch sobald ich aus ihrem Sichtfeld verschwinde, schreit Mia herzerweichend.“ Larissas Tochter fremdelt. Eine ganz normale Reaktion, die alle Kinder zwischen fünf und 18 Monaten in unterschiedlicher Ausprägung zeigen.

Fremdeln von Beginn an? - Neugeborene sind noch bindungsoffen

„Bereits Neugeborene sind in der Lage, ihnen schon aus der Schwangerschaft bekannte Stimmen wiederzuerkennen. Am vertrautesten ist ihnen die Mama“, erklärt Psychologin Prof. Dr. Fabienne Becker-Stoll, Bindungsforscherin und Leiterin des Staatsinstituts für Frühpädagogik in München. In den ersten drei Lebensmonaten bringt das Kind aber noch eine gewisse Bindungsoffenheit mit. Das dient der Überlebenssicherung des Kindes. Kann die Mama nicht als Hauptbezugsperson für ein Kind da sein – früher sind viele Frauen während oder nach der Geburt gestorben – ist das Kind in der Lage, sich auch an andere Menschen zu binden.

Fremdelphase: Normales Zeichen für eine gute Mutter-Kind-Bindung

Ab dem dritten Lebensmonat nimmt diese Offenheit gegenüber anderen Bezugspersonen ab und das Kind beginnt nun deutlich seine Hauptbindungsperson (meist die Mutter) zu bevorzugen und sie von anderen Personen zu unterscheiden. Die Angst vor fremden Personen steigt bis zum sechsten Lebensmonat an. Das Gehirn des Kindes ist nun so weit gereift, dass es seine Sinneseindrücke unterscheiden und einsortieren kann. Ein Kind wie Mia hat gelernt, wer zu ihrem Familien-Clan gehört. Erscheint ihr jemand fremd, versucht sie die Nähe zur Mama zu gewinnen, hält sich an ihr fest, schmiegt sich an und weint. Fremdeln ist somit auch immer Ausdruck dafür, dass der Bindungsaufbau zur Hauptbezugsperson gelingt und das Kind sich normal entwickelt.

Fremdeln ist Ausdruck einer gelungenen Bindung

Angst gibt es nicht nur gegenüber gänzlich fremden Menschen, sondern auch gegenüber anderen im Grunde vertrauten Personen. Diese ist jedoch wesentlich weniger ausgeprägt.

Der Vater, der sich wie die Mutter von Anfang an um das Kind gekümmert hat, ist kein Fremder. Das Kind wird eher bereit sein, sich auf seinen Arm nehmen zu lassen, wenn Mama mal für eine Stunde weggehen muss.

Auch die Oma, die jede Woche zu Besuch kommt, ist nicht fremd. Lässt sich die Oma, die zuvor regelmäßig zu Besuch kam, aber für einige Wochen nicht blicken, kann es sein, dass sie statt mit einer freudigen Begrüßung mit Angst und Ablehnung rechnen muss.

Wovon hängt es ab, wie sehr ein Kind fremdelt?

„Eine Fremdel-Reaktion lässt sich bei allen Kindern beobachten. Wie sehr diese ausgeprägt ist, hängt auch immer vom Temperament des Kindes und seiner Sozialisation ab“, stellt Fabienne Becker-Stoll klar. Es gibt Kinder, die ihr Leben lang eher zurückhaltend sein werden, weil dies in ihrem Naturell liegt und die darum auch im Baby- und Kleinkindalter sehr stark ihre kleine vertraute Welt um sich brauchen.

Andere Kinder hingegen bringen in ihrem Wesen eine große Offenheit und Neugier auf andere Menschen mit, werden wahrscheinlich früh Freundschaften und Kontakt zu Gleichaltrigen suchen und genießen es schon früh, wenn um sie herum das Leben pulsiert.

Dabei spielt auch eine Rolle, wie die Eltern leben: Wird das Baby in einer kleinen Familie groß, die am liebsten viel Zeit mit sich allein und ein paar wenigen eng vertrauten Menschen verbringt oder lebt das Kind bei Eltern, die selbst gern viele Kontakte pflegen, ein offenes Haus haben und gern viele Freunde und Verwandte um sich scharen.

Fremdeln: Das Temperament des Kindes berücksichtigen

Manchmal treffen hier auch innerhalb einer Familie zwei unterschiedliche Kulturen aufeinander. Nicht immer ist das konfliktfrei. Ein Teil der Familie, bei dem es üblich ist, dass immer viele Menschen zusammenkommen und auch die Babys gern von Arm zu Arm gereicht werden, wird schwer verstehen können, warum genau das jetzt ein Problem sein soll. Alle lieben das Kind und wollen ihre Zuneigung zeigen. „Im Zweifelsfall“, rät Fabienne Becker-Stoll, „entscheidet hier, wie sich das Kind fühlt“. Ist es dem Kind offenkundig zu viel Nähe, sollten Eltern es aus der Situation herausnehmen.

Natürlich hat es auch einen Einfluss auf die Intensität des Fremdelns, ob ein Kind ausgeschlafen oder müde ist, ob es gesund und abenteuerbereit oder etwas kränklich ist oder vielleicht Schmerzen hat und darum Mamas Nähe und Geborgenheit noch mehr braucht als sonst.

Baby fremdelt: Was tun?

„Wichtig ist, Verständnis zu haben und das Kind zu schützen, wenn andere Menschen ihm wohlmeinend zu nahe kommen“, sagt Fabienne Becker-Stoll. Kein Kind fremdelt absichtlich und es macht den Kindern auch keinen Spaß. Sie haben echte Angst und brauchen Hilfe dabei, ihre Gefühle zu regulieren. Geduld und Gelassenheit ist hier meistens die beste Strategie.

„Ich erkläre es meinen Student*innen gern mit diesem Beispiel“, erzählt Fabienne Becker-Stoll. „Stell dir vor, du besuchst eine gute Freundin, die ein acht Monate altes Baby hast. Du freust dich auf den Besuch und hast für das Baby ein kleines Spielzeug ausgesucht. Doch in dem Moment, in dem du die Wohnung betrittst, fängt das Baby an zu schreien und verbirgt den Kopf an Mamas Schulter. Am besten ist es jetzt, wenn du und deine Freundin ganz gelassen bleiben. Ihr setzt euch gemütlich hin und plaudert entspannt miteinander. Das Spielzeug legst du einfach auf den Tisch. Das Baby kann auf Mamas Schoß dabei sein und erfährt: Ich bin nicht im Fokus, alle sind entspannt. Mama ist fröhlich, alles ist gut. Nach und nach wird die kindliche Neugier siegen und das Baby sich für das Spielzeug auf dem Tisch interessieren.“

Fremdeln nicht persönlich nehmen

Es ist wichtig, Fremdeln nicht persönlich zu nehmen, sondern als normale Reaktion zu verstehen. Am ehesten hilft es dem Kind in dieser Situation, wenn die Aufmerksamkeit der Person, die ihm Angst macht, von ihm weggenommen wird. Ein Kind fremdelt und weint, weil ihm in diesem Moment gefühlt jemand zu nahekommt, sich ihm direkt zuwendet. Nicht weil Menschen einfach nur mit ihm an derselben Bushaltestelle anstehen oder neben der Mama durch den Supermarkt hetzen.

Fremdeln mit 2 Jahren? - Wenn Kita-Eingewöhnung und Fremdelphase zusammenfallen

Psychologin Fabienne Becker-Stoll rät dazu, die Kita-Eingewöhnung nicht abzubrechen, zumal viele Eltern ja auch aus guten Gründen eine Betreuung für ihr Kind benötigten. Aber Eltern sollten mehr Zeit einplanen, geduldig bleiben, wenn es nur in sehr kleinen Schritten gehe. „Wir haben festgestellt, dass die Hausbesuche für die Kinder ganz oft einen Eisbrecher darstellen“, berichtet Fabienne Becker-Stoll.

Die Bezugserzieherin oder Bezugserzieher besuchen das Kind vor dem Kitastart zu Hause. Die Kinder können sich daran erinnern, insbesondere wenn auch die Eltern vermitteln können, „guck mal, die oder der ist nett, wir mögen sie oder ihn, wir haben Vertrauen“. Erzieherin oder Erzieher gehören dann in gewisser Weise zum Clan. Entsprechend kann auch eine Gewöhnung an eine Tagespflegeperson oder einen Babysitter gelingen.

Wann hört Fremdeln auf?

Fremdeln mit 1 Jahr? Fremdeln mit 2 Jahren? Die Beruhigung bleibt: Das Fremdeln hält nicht ewig. Es gibt schüchterne Kinder, die sich noch lange mit Neuanfängen und Unbekanntem schwertun werden und auch hier viel Geduld und Verständnis brauchen. Aber bei allen Kindern ab etwa 18 Monaten gesellt sich zum Sicherheitsbedürfnis auch die Freude daran, sich auf eigenen Beinen fortbewegen zu können und die Welt entdecken zu wollen.